Der Apostelbrief

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„Postwachstums­ökonomie“ – ein Thema auch für Christen?


Autor

In Fortsetzung meines Beitrags zum „Christentum und Wirtschaft“ im letzten Apostelbrief möchte ich mit diesem Beitrag Einblicke in zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten eines globalen und funktionierenden Wirtschaftssystems geben, das den Menschen dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören. Dies ist meines Erachtens ein durchaus christlicher Ansatz.

In zwei Publikationen aus dem „Publik-Forum“ stellen der Ökonom und Professor an der Universität Oldenburg Nico Paech und die Ökonomin Angelika Zahrnt vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung fest, dass ein weiteres Wirtschaftswachstum bereits mittelfristig an den absehbaren Ressourcenengpässen scheitern muss. Selbst wenn Energie zunehmend aus regenerativen Quellen gewonnen wird und umweltfreundliche Technik entwickelt wird, stößt dieses „grüne Wachstum“ an seine Grenzen. Neue Technologien wie z.B. ein sparsameres Auto verleiten dazu, dass mehr gefahren wird oder energieeffizientere Küchengeräte wie z.B. eine Waschmaschine werden häufiger oder nur teilgefüllt genutzt. Hierdurch werden die Einsparungen aufgefressen. Beide Ökonomen sind der festen Überzeugung, dass sich daher das menschliche Verhalten ändern muss. Das könnte jeder von uns beachten.

In einer Ringvorlesung in diesem Wintersemester an der Universität Oldenburg fordert Herr Paech dazu auf, über die Wirtschaft ohne Wachstum die sogenannte Postwachstumsökonomie nachzudenken. Nach Paech wird diese als eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts BIP1 über stabile, regionale Versorgungsstrukturen verfügt und ein reduziertes Konsumniveau akzeptiert. Es wird eine klare Absage den vielen Versuchen erteilt, weiteres Wachstum dadurch zu rechtfertigen, dass deren ökologischer Entkopplung durch technische Innovationen möglich ist. Paech fordert eine Befreiung von Überfluss und eine neue Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung.

Die Ökonomin Angelika Zahrnt bringt in diesem Zusammenhang den Begriff Degrowth ins Gespräch. Dieser bedeutet eine Verringerung von Konsum und Produktion und damit des BIPs als einen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und Wohlbefinden. Degrowth bezeichnet also ein Gesundschrumpfen der Wirtschaft und der Finanzen, da die Menschheit bereits über ihre Verhältnisse lebt und damit die ökologischen Systeme überstrapaziert.

Im Rahmen der seit 2008 regelmäßig stattfindenden Degrowth Konferenzen werden die Möglichkeiten zum Umbau des bisherigen auf Wachstum basierenden Wirtschaftssystems zu einer Postwachstumsgesellschaft intensiv diskutiert. (Die Teilnehmerzahl von über 3000 Personen an der letzten Leipziger Degrowth-Konferenz im Jahr 2014 hat gezeigt, dass dieses Thema viele Menschen bewegt.)

Die Vertreter dieser Bewegung sind überzeugt, dass eine auf Wachstum basierende Gesellschaft keine Zukunft hat. Es sei an der Zeit, Formen von Wirtschaft und Gesellschaft aufzubauen, die unabhängig von Wirtschaftswachstum ein gutes Leben für alle ermöglichen. Unter Degrowth oder Postwachstum wird eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform verstanden, die das Wohlergehen aller zum Ziel haben und die ökologischen Lebensgrundlagen erhalten. Dafür sind eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig. Das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip lautet „höher, schneller, weiter“ – es bedingt und befördert eine Konkurrenz zwischen allen Menschen. Dies führt zum einen zu Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung. Zum anderen zerstört diese Wirtschaftsweise unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Anhänger des Degrowth sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen. Nur so kann ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden.

Nico Paech schreibt in seinem Buch „Die Befreiung vom Überfluss“ unser Ressourcenverbrauch sei nicht nur ökologisch katastrophal, sondern überfordere die Menschen auch psychisch. Seine wichtigsten Forderungen sind die Einführung der 20-Stunden-Woche, mehr Zeit um selbst Obst und Gemüse anzubauen, Kleider und Elektrogeräte wieder zu reparieren, Produkte mit anderen Menschen zu teilen und schließlich effiziente Technologien und Produkte, die umgewandelt und wiederverwertet werden können. Im Ergebnis wären die Menschen damit weniger abhängig von globalen Wertschöpfungsketten und somit zufriedener.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer weist darauf hin, dass dieses permanente Wachstumstreben infolge des klimaschädlichen Verhaltens der Menschheit die Zerstörung der Erde zur Folge hat. In seinem Buch „SelbstDenken – eine Anleitung zum Widerstand“ ruft er mit 12 Regeln zum erfolgreichen Widerstand auf.

Einige Beispiele: Alles könnte anders sein; es hängt ausschließlich von Ihnen ab, ob sich was verändert; nehmen Sie sich deshalb ernst; hören Sie auf, einverstanden zu sein; leisten Sie Widerstand, sobald Sie nicht einverstanden sind; Sie haben jede Menge Handlungsspielräume. Herr Welzer weist immer wieder darauf hin, dass es nicht die abstrakten Werte sind, die die Praxis verändern, sondern dass es eine veränderte Praxis ist, die die Werte verändert. Beispielhaft seien hier die Tausch- oder Recyclingsbörsen und die Reparatur-Cafes genannt, die eine gesellschaftliche Veränderung am Horizont erscheinen lassen.

Cafe

Als Christen sollten wir uns daran beteiligen, indem wir z.B. Strom, Heizwärme und Treibstoff einsparen Strom, Heizwärme und Treibstoff einsparen, auch wenn diese vielleicht regenerativ oder pflanzlich erzeugt wurden. Wir könnten über Car-Sharing gemeinsam Autos nutzen, auf übermäßige Flugreisen verzichten und mehr mit der Bahn fahren. Wir könnten Kleidung länger tragen, ältere Möbel wieder instand setzen und Haushaltsgeräte wieder reparieren bevor wir diese gedankenlos einfach wegwerfen. Mit Upcycling2 könnten z.B. aus Obstkisten oder Paletten kreativ Möbel hergestellt werden. Auch Sie haben als Christen diese Handlungsspielräume um unsere Umwelt zu schonen und somit eine Zerstörung der Erde zu vermeiden.

-HS-

1BIP: Gesamtwert aller Güter, d. h. Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt wurden.
2Beim Upcycling (englisch up „hoch“ und recycling „Wiederverwertung“) werden Abfallprodukte oder scheinbar nutzlose Stoffe in neuwertige Produkte umgewandelt.

Quellen
https://www.publik-forum.de/Politik-Gesellschaft/wirtschaftswachstum-darf-kein-ziel-mehr-sein
https://www.publik-forum.de/Publik-Forum-16-2014/weg-von-all-dem-wohlstandsschrott
http://www.postwachstumsoekonomie.de/
http://www.degrowth.de/de/
http://repaircafe.org/de/
Harald Welzer, Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, S. Fischer 2013, ISBN 978-3-10-089435-9