Der Apostelbrief

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W.Behnk

Am 26.Oktober 2001 besuchte Wolfgang Behnk, Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche in Bayern, früher Pfarrer in Gerbrunn, unsere Apostelgemeinde. Sein Referat dieses Abends - von ihm aus aktuellem Anlaß ergänzt - ist hier zum Nachlesen:


Ende des »Religionsprivilegs«?

Die Herausforderung von Staat und Kirche durch Sekten und Psychogruppen nach dem 11. September.

Vortrag in der Evang.-Luth.Apostelkirche Gerbrunn am 26.10.01, 20 Uhr
aktualisiert am 18.11.2001

Von Kirchenrat Dr. Wolfgang Behnk

Fünf Tage nach den unfasslichen Massenmorden von New York und Washington durch islamistisch-fanatische Terroristen kündigte Bundeskanzler Schröder an, dass das Kabinett gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung internationaler extremistischer Organisationen beschliessen wolle. So solle im Strafgesetzbuch der § 129 a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) durch einen neuen § 129 b ergänzt werden, der es erlaube, Terroristen auch von aussen zu bekämpfen und ihnen den Geldzufluss abzuschneiden. Ausserdem forderte der Bundeskanzler, unterstützt vom Bundesinnenminister: »Das Religionsprivileg muss fallen.«

Nun könnte es ja sein, dass ein in diesen gesetzlichen Dingen nicht Kundiger erschrocken denkt, der Staat wolle mit der Abschaffung des »Religionsprivilegs« das hohe Verfassungsgut der Religionsfreiheit, wie es als Grundrecht in Art. 4 Grundgesetz (GG) und als staatskirchenrechtliche Fundamentierung in Art. 140 GG verankert ist, antasten. Das ist keineswegs der Fall. Um eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit oder gar ihre Abschaffung geht es nicht. Mit der Forderung des Staates, dass das Religionsprivileg fallen müsse, ist lediglich - aber immerhin - gemeint, dass das seit 1964 in Deutschland geltende »Vereinsgesetz« so angepasst werden müsse, dass es mit seinen in ihm vorgesehenen Möglichkeiten staatlicher Sanktionen gegen rechtswidrige Gruppen künftig auch religiöse - oder religiös etikettierte - Vereinigungen erfasst. Dies war bisher definitiv nicht der Fall. Bislang waren dem Staat solchen Gruppen gegenüber, die nach Art. 140 GG als »Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften« gelten, vom Vereinsgesetz her völlig die Hände gebunden. Dabei genügte bisher z.B. die blosse Behauptung einer Gruppe, eine religiöse Gemeinschaft im Sinne von Art. 140 GG zu sein, um unter das vor einem Verbot schützende Religionsprivileg des Vereinsgesetzes zu fallen. Dies solle, so die gewichtigen Stimmen aus der Politik und der Gesellschaft nach dem 11. September, in der Zukunft anders werden.

Die Argumente, die für eine Revison des Vereinsgesetzes sprechen, stiessen in kirchlichen Kreisen erstem Vernehmen nicht auf taube Ohren. Mehr noch: Es wurde jetzt erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass es bereits Ende 2000 zwischen der Bundesregierung und den beiden großen Kirchen zu Konsultationen kam. Schon 1995 hatte der bayerische Innenminister Günther Beckstein dem damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther auf dem Hintergrund der extremistischen Aktivitäten des »Kalifen von Köln« Muhammed Metin Kaplan, Führer des »Verbandes der islamischen Vereine und Gemeinden e.V.« (ICCB) empfohlen, das Religionsprivileg im Vereinsgesetz streichen zu lassen, um den militanten islamistischen Verein verbieten zu können. Staatsminister Beckstein berief sich damals auf ein schon 24 Jahre altes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, welches entschieden hatte, dass »auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften« an »die verfassungsmässige Ordnung gebunden« seien und bei Verstössen verboten werden könnten. Das Bundesinnenminsterium ging damals auf die Forderung von Bayerns Inenminister nicht ein, dem Vernehmen nach, weil man fürchtete, die Abschaffung des Religionsprivilegs könnte als ein Eingriff des Staates in die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit missverstanden werden. Erst nachdem Ende 2000 islamistische Mudschahidin-Terroristen einen Bombenanschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt geplant hatten und verhaftet worden waren, entwickelten Bundesinnenminister Otto Schilys Ministerialbeamte Aktivitäten. Sie nahmen mit den Spitzen der evangelischen und katholischen Kirche vertrauliche Gespräche zur Änderung des Vereinsgesetzes auf und erhielten von beiden Kirchen die Zustimmung zur Abschaffung des Religionsprivilegs. (Der Spiegel Nr. 45 vom 5.11.01, 31) Am 9. November 2001, also knapp zwei Monate nach den Terroranschlägen von New York und Washington, schaffte der Deutsche Bundestag das Religionsprivileg im Vereinsgesetz ab.

Das was die islamistischen Terroristen an jenem 11. September veranstaltet haben, war keineswegs nur ein blindwütiges Bündel unüberlegter Terrorhandlungen, sondern - trotz der logistischen Kalkuliertheit seiner operativen Durchführung - eine Art Odyssee ihres eigenwilligen Glaubens. Ganz gleich, ob bei den Attentätern, die die Flugzeuge von ihren vorgesehenen Bahnen abbrachten und sie mit finaler Suizidalität auf einen Todesflug des Massenmordes zwangen, religiöse oder politische Hauptmotive vorlagen, was sie da veranstalteten, war eine Irrfahrt mörderischen Glaubens. Offenkundig ist, dass die Attentäter es aus einer verblendeten sektiererischen Wahnhaltung heraus gemacht haben.

Dem kritischen Zeitgenossen fallen in diesem Zusammenhang die Gewalttaten der christlichen Volkstempel-Sekte des Jim Jones ein, deren fast 900 Mitglieder sich 1978 in ihrem Anwesen im Dschungel von Guyana selbst oder gegenseitig töteten, darunter viele Kinder. Oder die der christlichen Davidianer-Sekte (Branch Davidians) des David Koresh alias Vernon Howell im Jahre 1993, bei denen 88 Männer, Frauen und Kinder auf ihrer »Ranch Apocalypse« im texanischen Waco durch vermutlich selbst gelegtes Feuer umkamen. Oder die des sektiererisch-esoterischen Ordens des Sonnentempels (Sonnentempler) des Luc Jouret und des Joseph Di Mambro, bei denen 1994/1995 in Kanada, in der Schweiz und in Frankreich 66 Menschen suizidal oder durch Ermordung umkamen, unter den Ermordeten wiederum auch wehrlose Kinder. Oder die der buddhistischen Aum-Shinrikyo-Sekte des Shoko Asahara 1995 in Japan, die auf die Benutzer der Tokyoter U-Bahn einen brutalen Giftgasanschlag mit vielen Toten und Verletzten verübte. Oder die der esoterischen Heaven´s Gate-Sekte des Marshall Herff Applewhite im kalifornischen San Diego, deren Anhänger, allesamt Computerfachleute, sich 1997 umbrachten, weil sie meinten, sie würden durch ein UFO im Schweif des Kometen Hale-Bopp evakuiert und bräuchten ihre Körper dazu nicht mehr. All dies sind Glaubens-Irrfahrten, die in selbstmörderischem Exitus, mörderischem Verbrechen und monströsem Terror endeten.

Die Terroranschläge der islamistischen Mordsektierer vom 11. September 2001 sind in dieser Chronologie des Grauens gewiss ein bislang einzigartiger qualitativ und quantitaiv - perfider Höhepunkt und müssen ganz sicher als der vielzitierte »Anschlag auf die gesamte Zivilisation« bewertet werden. Aber dennoch stehen die Ereignisse des 11. September nicht ausserhalb jeglicher systemischen Erfassung. Die der unlimitierten Gewaltbereitschaft zugrundeliegende Haltung zeichnet keineswegs nur fanatisch-militante islamistische Gruppen aus, sondern sektiererische Systeme jeglicher religiösen und weltanschaulichen Provenienz. Auch wenn nur ein sehr kleiner Teil geschlossener (totalitärer) sektiererischer Systeme zu offener Gewalttätigkeit neigt, so gibt es doch für letztere Belege im sektiererischen Bereich aller Religionen, keineswegs nur im Bereich des Islam. Gewalttätige, kriminelle und terroristische Strategien fanatischer Religiöser sind keineswegs überzogene Entgleisungen der angestammten Religionen, sondern deren essentielle Pervertierung, gegen die sie sich mit aller Entschlossenheit und in interreligiöser Solidarität zur Wehr setzen müssen. Religionsgemeinschaften können sich vom Terror aus »ihren Reihen heraus« scharf abgrenzen (auch administrativ), sie können sich von ihm empört distanzieren, sie können ihn öffentlich unmissverständlich verurteilen, über die Möglichkeit effizienter operativer Sanktionen gegen kriminelle und terroristische Gewalttäter hingegen verfügen sie nicht.

Von hierher, von der Gewalttätigkeit mancher religiöser sektiererischer Systeme her, ergibt sich die Frage, wer dagegen denn überhaupt operativ wirksam etwas machen kann. Letztlich kann es in der Demokratie nur der Staat, dem die Verfassung das Gewaltmonopol verliehen hat. Um den Stellenwert des besagten deutschen Vereinsgesetzes und der Notwendigkeit seiner Revidierung besser einordnen zu können, soll der in unserem Land geltende verfassungsmässige Kontext aufgezeigt werden, in dem das Vereinsgesetz angesiedelt ist. Die Wichtigkeit des Staates im Hinblick auf den Umgang mit gefährlichen sektiererischen Gruppen führt zunächst zu der generellen Frage, wie denn in unserer Rechtsordnung überhaupt die Bildung religiöser Gemeinschaften geregelt ist. Wie verhalten sich der Staat auf der einen Seite und die kirchlichen und sonstigen religiösen und weltanschaulichen Vereinigungen, einschliesslich der sektiererischen, auf der anderen?

Mit dem Ende des I. Weltkrieges endete in Deutschland auch die lange Periode des Staatskirchentums, in dem die staatliche Obrigkeit zugleich als höchste irdische Rechtsautorität für die Kirchen fungierte. Mit der Abdankung des Kaisers und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches bei Kriegsende 1918 begann die Phase eines ersten gesamtdeutschen demokratischen Gemeinwesens. Es war die Geburtsstunde der »Weimarer Republik«. Sie wurde benannt nach der in der Goethestadt Weimar tagenden Nationalversammlung, die am 1. August 1919 als neue deutsche Verfassung die »Weimarer Reichsverfassung« beschloss. Ihre Artikel 136-139 und 141 betrafen das Verhältnis von Kirche und Staat, wie es künftig sein solle. Sie wurden dreissig Jahre später, nach dem verlorenen II. Weltkrieg und dem Zusammenbruch der barbarischen Nazi-Diktatur, als Artikel 140 in die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) vom 23. Mai 1949 übernommen.

Im Mittelpunkt dieser Artikel steht zunächst die klare Bestimmung, dass es fortan in Deutschland keine Staatskirche mehr gebe. Der Staat hat danach keinerlei Zugriffsrechte mehr auf die in Deutschland existierenden oder neu gebildeten Religionsgemeinschaften (»Religionsgesellschaften«). Es heisst vielmehr: »Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.«

Damit wird deutlich gemacht, dass in Deutschland der Staat der Kirche und den anderen Religionsgemeinschaften keinerlei Vorschriften mehr zu machen hat. Er ist weder ihre oberste formale Verwaltungsinstanz, noch hat er die Befugnis, ihnen als Zensor inhaltliche Weisungen zu erteilen. Es wird eine prinzipielle Trennung von Kirche und Staat vorgenommen. Die Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften in Deutschland sind also gegenüber dem Staat autonom, müssen sich aber mit ihrem Autonomierecht an das für alle geltende Gesetz halten. Religionsgemeinschaften dürfen also zwar ihre eigenen Angelegenheiten nach freiem Ermessen ordnen, dürfen dabei aber nicht gegen die allgemein gültige Rechtsordnung verstossen. Sie dürfen nicht ihre Autonomie dazu missbrauchen, die anderen durch das deutsche Grundgesetz geschützten verfassungsmäßigen Rechtsgüter ihrer Mitglieder zu beschädigen oder zu zerstören.

Was für die religiösen Gemeinschaften gilt, ist im deutschen Grundgesetz nur ein Sonderfall des individuellen Rechtes der Bürger auf ihre Religionsfreiheit, wie sie im Grundrechtsartikel 4 als »Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses« näher bestimmt wird. Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 GG ist ein so wichtiges Grundrecht, dass sie als »unverletzlich« bezeichnet wird und vorbehaltlos gewährt wird. Das heisst, der Staat hat nicht das Recht, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Individuen und ihrer gemeinschaftlichen Korporationen durch irgendwelche Gesetze oder Verordnungen zu beschneiden oder ausser Kraft zu setzen. Allerdings darf der Artikel 4 »Religions- und Weltanschauungsfreiheit« nicht dazu missbraucht werden, andere Rechtsgüter im Verfassungsrang zu beschädigen.

Man kann es durch den Satz ausdrücken: Jeder kann in Deutschland zwar glauben, was er will, aber er kann nicht alles machen, was er glaubt.

Ein Beispiel: Bei den Zeugen Jehovas gilt die Bluttransfusion als religiös verboten, das heisst, Zeugen Jehovas würden lieber auf die lebensrettende Bluttransfusion verzichten und sterben, als ihrem Glauben zuwider zu handeln. Nach dem Grundgesetz dürfen sie dies glauben. Sie haben sogar ein Recht auf ihren abstrusen und fanatischen Glauben, dass Gott Jehova ihnen auch bei ihren unmündigen Kindern die Ablehnung einer Bluttransfusion als Glaubensgehorsam abverlangt. Ja, so weit geht das Grundgesetz: Die Zeugen Jehovas dürfen glauben, dass es besser sei, ihre Kinder verbluten zu lassen, als sie mit einer Bluttransfusion von den Ärzten retten zu lassen. Aber, und nun kommt die entscheidende Präzisierung: Die Zeugen Jehovas dürfen im Hinblick auf ihre unmündigen Kinder zwar ein solch fanatisches Bluttransfusionsverbot glauben, sie dürfen es jedoch nicht an ihren Kindern real durchsetzen. Warum nicht? Weil ihre unmündigen Kinder nach Artikel 2 GG ein »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben«. Es käme dadurch zu einer Rechtsgüter-Kollision zwischen ihrer Religionsfreiheit als Eltern (Art. 4 GG) und dem eigenen Lebensrecht ihrer Kinder (Art. 2 GG). Da bei solcher elementaren Interessenskollision zwischen Elterngrundrecht und Kindesgrundrecht kein Kompromiss möglich ist (da die Eltern auf dem Bluttransfusionsverbot für ihre Kinder beharren), muss der Staat abwägen, welches Grundrecht im Hinblick auf die verfassungsmäßigen Interessen des Kindes vorrangig ist, sein eigenes Recht auf Leben, oder das Recht seiner Eltern, es nach ihrem Glauben ohne Bluttransfusion sterben zu lassen. Die Entscheidung unserer Rechtsordnung ist klar: Das Recht des Kindes auf sein Leben ist höherrangig als das Recht der Eltern, das Leben ihres Kindes durch ihren fanatischen Glauben zu gefährden. Die Zeugen Jehovas dürfen im Hinblick auf ihre Kinder zwar an das Bluttransfusionsverbot glauben und ihren Glauben bekennen, sie dürfen ihren religiösen Wahnglauben aber bei ihrem Kind nicht operativ durchsetzen. Sie dürfen zwar glauben, was sie wollen, aber sie dürfen nicht alles machen, was sie glauben. Damit findet die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG eine sogenannte »immanente« Grenze, eine ihr - im Gesamtsinn des Grundgesetzes - stillschweigend mit dazu geschriebene Grenze. Nämlich die Grenze, dass das Recht auf Religionsfreiheit nicht dazu missbraucht werden darf, um die Rechte Dritter, also anderer Menschen, besonders, wenn sie sich nicht wehren können (wie Kinder), ausser Kraft zu setzen.

Für den Staat bedeutet dies alles einerseits, dass er im Hinblick auf die Inhalte des Glaubens und Bekennens seiner einzelnen Bürger und ihrer Glaubensgemeinschaften zwar keinerlei Einfluss nehmen darf und religiös und weltanschaulich »neutral« zu sein hat. Solche Neutralitätspflicht ist dem Staat von der deutschen Verfassung her auferlegt. Auf der anderen Seite sind dem Staat aber hinsichtlich religiöser oder weltanschaulicher rechtswidriger Ausschreitungen keineswegs die Hände gebunden. Er muss vielmehr durch Warnungen oder administratives Einschreiten (Sanktionen bis hin zum Verbot einer Organisation im Extremfall) dafür sorgen, dass das Verfassungsgut Religionsfreiheit nicht als rechtswidrige oder gar kriminelle Waffe gegen Menschen gerichtet wird.

Welche Möglichkeiten gibt es nach dem deutschen Recht für die Konstitution religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften? Es gibt drei Formen der Gemeinschaftsbildung. Erstens die Form einer rechtlich nicht verfassten Gemeinschaft, zweitens die rechtlich verfasste Form eines eingetragenen Vereins und drittens die rechtlich verfasste Form einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechtes.

a) die Form einer rechtlich nicht verfassten Gemeinschaft. Der Nachteil für eine solche Gemeinschaft ist hierbei, dass sie kein eigenständiges Rechtssubjekt, keine »juristische Person« ist. Sie kann beispielsweise weder Eigentumsrechte besitzen, noch Prozesse vor Gericht führen. Zwar können ihre einzelnen Gemeinschaftsglieder, als »natürliche Personen«, Eigentum besitzen und Gerichtsprozesse führen, aber nicht die Glaubensgemeinschaft als kollektives Gesamtorgan. Deswegen bemühen sich die meisten Sekten und Psychoorganisationen, sich in einer rechtsfähigen Form zu organisieren (wie die Zeugen Jehovas und die Scientology Organisation), oder doch zumindest rechtsfähige Unterorganisationen zu haben (wie die in Bayern ansässsige Sekte »Universelles Leben«).

b) Die übliche Form der rechtlichen Verfasstheit einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft ist die des eingetragenen Vereins (e.V.). Um ein eingetragener Verein zu werden und damit eine rechtsfähige juristische Person, bedarf es der amtlichen - privatrechtlichen - Registrierung im Vereinsregister eines Amtsgerichtes. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass ein eingetragener Verein nicht in erster Linie kommerzielle, sondern ideelle Zwecke verfolgen muss. Ein eingetragener Verein darf kein Wirtschaftsverein sein, sondern er muss ein Idealverein sein. Ein e.V. darf zwar auch Geschäfte tätigen, aber nur, wenn diese nicht sein Hauptzweck sind, sondern erkennbar ideellen Zwecken untergeordnet sind. Ein e.V. hat wegen seiner ideellen Ziele rechtliche Vorteile wie etwa steuerliche Erleichterungen.

Auch die kommerziell ausgerichtete Scientology-Organisation, die sich als »Kirche« und »Religion« bezeichnet, um ihre kommerziellen Ziele zu verschleiern, hat vom Beginn ihres Auftauchens in Deutschland an (seit 1970) begonnen, ihre einzelnen Gruppierungen als »eingetragene Vereine« registrieren zu lassen, um die operative Rechtsfähigkeit und steuerlichen Privilegien zu bekommen. Nun gab es am 22. März 1995 ein wichtiges Urteil eines der höchsten deutschen Gerichte, des Bundesarbeitsgerichtes, gegen eine Scientology-Organisation (Hamburg; Aktenzeichen: 5 AZB 21/94). Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Scientology-Organisation keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne des deutschen Grundgesetzes nach seinen Artikeln 4 und 140 sei. Es handle sich bei der Scientology-Organisation vielmehr um eine rein kommerzielle Wirtschaftsorganisation, bei der das Religiöse nur Tarnung sei. Die Scientology-Organisation versuche, durch den Deckmantel der Religion zu verschleiern, dass es ihr in Wirklichkeit um »die Erzielung von Gewinn« als Hauptzweck gehe. Scientology »kommerzialisiere« seine Mitglieder und werbe neue Mitglieder mit »unlauteren Werbemethoden« an, die bei Scientology »zum Prinzip erhoben« seien. Ausserdem widerspreche der »menschenverachtende« und »totalitäre« Charakter von Scientology dem Wesen einer echten Religionsgemeinschaft. Daher habe die Scientology-Organisation kein Recht, sich bei der Ausübung ihrer skrupellosen Geschäfte auf die Religionsfreiheit zu berufen. Seitdem die höchsten deutschen Gerichte bestätigt haben, dass die Scientology-Organisation keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes ist, sondern ein unseriöser, menschenverachtender, totalitärer und gefährlicher internationaler Wirtschaftskonzern, wird sie in Deutschland von denVerfassungsschutzämtern observiert und vom Staat administrativ von öffentlichen Aufträgen oder vom Unterwandern des öffentlichen Dienstes durch die Abgabe von »Schutzerklärungen« ferngehalten.

Weil gerichtlich festgestellt wurde, dass es sich bei Scientology um keine Vereinigung handelt, die unter dem Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 und 140 GG steht, konnte und kann der Staat gegen diese Psychoorganisation tätig werden. Auch im Bereich der Kirchen hat man begonnen, sich in ihrem inneren Administrationsbereich einigen Massnahmen des Staates anzuschliessen.Die Evang.-Luth. Kirche in Bayern (ELKB) und ihre Diakonie verlangen beispielsweise neuerdings von bestimmten potentiellen Vertragspartnern, etwa im Bereich von Fortbildungsveranstaltungen, die Abgabe einer Schutzerklärung bei Vergabe durch Rechtsträger der Evangelisch Lutherischen Kirche in Bayern und ihrer Diakonie.

Die Abweichung von den Schutzerklärungsformularen staatlicher Stellen besteht darin, dass die ELKB/Diakonie zusätzlich zu der Scientology-Abfrage (Punkte 2. bis 3.) auch noch, und zwar als erstes sogar (Punkt 1.) eine Erklärung darüber abverlangen, »dass ich nicht in Beziehungen zu Sekten oder anderen religiösen Vereinigungen (z.B. Hare Krishna, Mun, Zeugen Jehovas, Universelles Leben) stehe, nicht an Veranstaltungen oder Schulungen bei o.g. Gruppierungen teilnehme und o.g. Gruppierungen nicht auf ideelle, finanzielle oder andere Weise unterstütze.« Bei unwahren Angaben des Unterzeichners seien die ELKB/Diakonie zu fristloser Kündigung des Vertrages sowie zu einer Vertragsstrafe berechtigt. Während die Kirche ihre Schutzerklärung nicht nur auf die nicht als Religion oder Weltanschauung geltende Scientology-Organisation bezieht, sondern auch auf religiöse Vereinigungen (»Sekten und andere religiöse Vereinigungen«) - sie hat als sogenannter »Tendenzbetrieb« das verfassungsmässige Recht dazu -, ist der Staat - wegen der ihm von der Verfassung her auferlegten religiösen und weltanschaulichen Neutralitätspflicht - gegenüber religiösen Gruppen bislang machtlos, zumindest was das deutsche Vereinsgesetz angeht.

Was hat es mit dem Vereinsgesetz auf sich, welches am 9. November 2001 vom Deutschen Bundestag geändert wurde? Es heisst mit vollem Namen Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) und stammt vom 5. August 1964. Nach § 2 dieses Gesetzes ist ein »Verein« im Sinne dieses Gesetzes »ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich natürliche oder juristische Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen« haben. Nach § 3 kann ein Verein »als verboten« behandelt werden, »wenn durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, daß seine Zwecke oder seine Tätigkeit« im Sinne von Art. 9 Abs. 2 GG »den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder daß er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet«. Allerdings werden in diesem Vereinsgesetz in seinem § 2 »Ausnahmen« festgelegt, die nicht unter dieses Gesetz fallen und gegen die nicht mit einem Vereinsverbot (nach § 3) vorgegangen werden kann. Zu diesen Ausnahmen gehörten bis zum 9. Novemver 2001 - neben politischen Parteien (die nach Art. 21 GG verfassungsgemäss sind; sie gelten so lange als nicht verfasssungswidrig, als sie das Bundesverfassungsgericht nicht verbietet = »Parteienprivileg«) und Parlamentsfraktionen - auch die nach Art. 140 GG/Art. 137 WRV definierten Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen.

Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Sinne von Art. 140 GG waren mithin bisher im Vereinsgesetz von der Möglichkeit eines Verbotes prinzipiell ausgenommen. Man sprach deshalb von dem Religionsprivileg des Vereinsgesetzes. Immer wieder wurde freilich in den letzten Jahrzehnten überlegt, ob es dem Staat nicht gestattet werden sollte, auch religiöse oder weltanschauliche Vereinigungen, die unter die Definition von Art. 140 GG fallen, zu verbieten, wenn sie offenkundig im Sinne von Art. 9 Abs. 2 GG krimineller, verfassungsfeindlicher und gegen die Völkerverständigung gerichteter Art sind. Solche Gruppen sollten, so die berechtigten Überlegungen, ihre rechtsbrecherischen Zwecke und Handlungen nicht länger durch eine Lücke im Vereinsgesetz unangreifbar machen dürfen. Jedoch geschah staatlicherseits bis Ende 2000, bis zu den eingangs erwähnten Konsultationen mit den beiden großen Kirchen, praktisch nichts. Seit dem 9. November 2001 gibt es das Religionsprivileg im Vereinsgesetz nicht mehr.

c) Ein weltweit einmaliger Sonderfall deutschen Verfassungsrechtes ist die Möglichkeit für Religionsgemeinschaften, sich vom Staat als religiöse Körperschaften des öffentlichen Rechtes anerkennen zu lassen. Es ist dies die höchste Form rechtlicher Verfasstheit für eine religiöse Gemeinschaft in Deutschland, die es in anderen Ländern so nicht gibt. Anders als bei einem eingetragenen Verein, der privatrechtlicher Natur ist, zeichnet sich der Status einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechtes (KdöR) durch staatliche Anerkennung und besondere, vom Staat verliehene Privilegien aus. Etwa, mit Hilfe der Finanzämter von den Mitgliedern Kirchensteuern einzuziehen oder an Schulen und Universitäten offiziell unterrichten zu dürfen. Trotz der prinzipiellen Trennung von Kirche und Staat, wonach der Staat kein Recht hat, sich in die inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft einzumischen, signalisiert der Status einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechtes doch eine gewisse Symbiose zwischen den Kirchen und dem Staat. Weil der Staat das Wirken bestimmter religiöser Gemeinschaften (wie der Kirchen) für die Allgemeinheit als besonders nützlich würdigt, erkennt er sie als Körperschaften öffentlichen Rechtes an und verleiht ihnen bestimmte Privilegien.

Paradoxerweise kamen vor einigen Jahren die Zeugen Jehovas in Deutschland auf die Idee, sich mittels diverser Verwaltungsprozesse von den Gerichten bestätigen zu lassen, dass sie - wie die großen Kirchen in Deutschland (evangelisch, katholisch, orthodox) das Recht hätten, vom Staat als religiöse Körperschaft des öffentlichen Rechtes anerkannt zu werden. Ich sage, paradoxerweise, weil die Zeugen Jehovas den Staat, von dem sie solche Anerkennung begehren, als einen Teil des satanischen »Systems der Dinge« ansehen, welches ja im Endgericht Jehovas (»Harmagedon«) blutig liquidiert werden soll. Offenbar geht es den totalitär strukturierten Zeugen Jehovas aber gar nicht darum, sich dem demokratischen Gedankengut des deutschen Rechtsstaates anzunähern, sondern wohl eher darum, ihm finanziell-materielle und image-mäßige Vorteile abzuringen. Der Staat meinte, den Körperschaftsantrag der Zeugen Jehovas dadurch zurückweisen zu können, dass er auf die nichtdemokratische innere Verfassung der Organisation der Zeugen Jehovas hinwies. So sei es den Mitgliedern untersagt, sich an den demokratischen Wahlen zu beteiligen. Es sei aber ihm, dem Staat, nicht zuzumuten, eine totalitäre Organisation auch noch öffentlich mit Privilegien anzuerkennen. Das höchste deutsche Gericht, das Bundeverfassungsgericht, stellte jedoch vor knapp einem Jahr fest, dass die fehlende Loyalität einer Glaubensgemeinschaft gegenüber dem demokratischen Staat nicht ausreiche, ihr den begehrten Status einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechtes zu verweigern. Die Verwaltungsgerichte müssten sich vielmehr noch einmal an die Arbeit machen und prüfen, ob durch die Zeugen Jehovas auch die Grundrechte seiner Mitglieder angetastet würden. Derzeit ist es also in Deutschland Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit nachzuweisen, ob etwa durch das Transfusionsverbot eine solche Grundrechtsverletzung vorliegt.

Kritisch zu fragen ist, ob das Bundesverfassungsgericht nicht des Guten zu viel getan hat, wenn es die Religionsfreiheit für die Zeugen Jehovas so hoch angesiedelt hat, dass nicht einmal ihre demokratiewidrige totalitäre Führungssstruktur den Staat berechtigen soll, dieser Organisation den Status einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechtes zu verwehren. Ist es wirklich im Sinne der Verfassung, entschiedene Gegner der Demokratie auch noch durch staatliche Privilegien zu belohnen? Dass der Staat auch von ihrer Ideologie her totalitäre Gruppen zu tolerieren hat, sofern sie keine Gesetze brechen, ist sicher - um der uneingeschränkten Religionsfreiheit willen - sinnvoll. Aber soll er solche Gruppen auch noch mit öffentlichen staatlichen Privilegien belohnen müssen? Wird hier nicht der Sinn des Grundgesetzes ad absurdum geführt?

Bereits der Preussenkönig Friedrich der Grosse, hat in einer Randbemerkung von 1740 im Hinblick auf die religiöse Toleranzpflicht des Staates gesagt: Der Staat muss alle Religionen tolerieren, aber er muss sein »Auge darauf haben«, dass beim religiösen Verhalten keine Seite »der anderen Abbruch tue«. Die staatliche Toleranz sollte also nicht soweit gehen, dass diejenigen religiösen Gruppen, die die demokratische Freiheit und damit das Fundament der Toleranz beseitigen wollen, zur »Belohnung« für ihr Verhalten auch noch durch staatliche Anerkennung honoriert werden. Mit der Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz von 1964 durch den Deutschen Bundestag am 9. November 2001 wurde ein wichtiger Schritt begangen, damit sich künftig rechtswidrige Organisationen nicht vor notwendigen staatlichen Sanktionen dadurch schützen können, dass sie lediglich darauf verweisen, sie seien ja religiöse Gemeinschaften. Ob der Staat nach der vorgenommenen Abschaffung des Religionsprivilegs militante religiöse Vereinigung nunmehr tatsächlich verbieten oder aus Gründen der besseren Beobachtbarkeit der Gruppe (vorerst) auf deren Verbot verzichten wird, dürfte eine Frage der Opportunität sein. Die Möglichkeit eines Verbotes massiv rechtswidriger und gewalttätiger religiöser und weltanschaulicher Vereinigungen indes ist dem Staat jedenfalls nun vom Gesetz her - als ultima ratio - zur Verfügung gestellt worden.

Die Toleranz ist für ein demokratisches Gemeinwesen eine ihrer höchsten Tugenden. Aber die Toleranz gegenüber sektiererischen - religiösen und ideologischen - gewaltbereiten Fanatikern muss auch eine Grenze haben. Die Grenze der Toleranz ist dort, wo ihr mit Mitteln der Unterdrückung, der Manipulation der Gewalt und des Terrors systematisch der Kampf angesagt wird. Die Notwendigkeit der Beachtung einer solchen Toleranzgrenze haben die aktuellen Terroranschläge religiös-ideologischer Fanatiker in New York und Washington dramatisch vor Augen geführt. Es kann von den Demokratien dieser Welt nicht widerstandslos hingenommen werden, dass religiös-ideologischer Fanatismus sektiererischer Prägung sich unter dem Deckmantel der »Religion« als blindwütiger Terrorismus austobt. Hier gilt es für alle zivilisierten Staaten dieser Welt, nicht mehr nur zu reagieren, sondern präventiv und systematisch vorzugehen. Demokratien, die sich nicht verteidigen, werden sonst bald keine mehr sein. Dieser Einsicht haben sich auch die Kirchen nicht verschlossen, bei aller notwendigen Anmahnung der vom Staat zu beachtenden Verhältnismäßigkeit der Mittel.