Der Apostelbrief

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Luther

Zum Reformationsfest
etwas Luther im O-Ton

Wie in einem Brennspiegel fasst Luther in seiner »Disputation über den Menschen« von 1536 seine Sicht des Menschen und seine Theologie zusammen. Bemerkenswert vor allem auch seine Gedanken zur Vernunft, die er für keineswegs von der Sünde unabhängig hält. Dies sollte nachdenklich stimmen in einer Welt, in der die naturwissenschaftlich-technische Vernunft als scheinbar objektiv allem anderen übergeordnet wird.

Viel Spaß mit Luther!
Ihr Pfarrer J. Riedel


1. Die Philosophie, die menschliche Weisheit, definiert den Menschen als vernunftbegabtes, mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen.
2. Nun bedarf es jetzt nicht der Erörterung, ob der Mensch im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne als »Tier« bezeichnet wird.
3. Aber man muß wissen: Diese Definition bestimmt nur den sterblichen und irdischen Menschen.
4. Und in der Tat ist es wahr, daß die Vernunft die Hauptsache von allem ist, das Beste im Vergleich mit den übrigen Dingen dieses Lebens und geradezu etwas Göttliches.
5. Sie ist Erfinderin und Lenkerin aller freien Künste, der medizinischen Wissenschaft, der Jurisprudenz und all dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Herrlichkeit von Menschen besessen wird.
6. So muß sie mit Recht als Wesensunterschied bezeichnet werden, durch den der Mensch als Mensch bestimmt wird in Unterscheidung von den Tieren und den sonstigen Dingen.
7. Auch die heilige Schrift hat sie zu solcher Herrin über die Erde, über Vögel, Fische und Vieh eingesetzt mit dem Gebot: »Herrschet!«usw. (1.Mos.1,28).
8. Das heißt, sie soll eine Sonne und eine Art göttlicher Macht sein, in diesem Leben dazu eingesetzt, all diese Dinge zu verwalten.
9. Und selbst nach Adams Fall hat Gott der Vernunft diese Hoheit nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt.
10. Gleichwohl, daß sie solche Majestät sei, weiß eben diese Vernunft nicht auf Grund von deren Ursache, sondern nur durch Rückschluss aus den Wirkungen.
11. Vergleicht man deshalb die Philosophie oder die Vernunft selbst mit der Theologie, so wird sich zeigen, daß wir über den Menschen nahezu nichts wissen.
12. Scheinen wir doch kaum seine stoffliche Ursache3 hinreichend wahrzunehmen.
13. Kennt doch die Philosophie ohne Zweifel nicht die wirkende Ursache und entsprechend auch, nicht die Zweckursache des Menschen.
14. Als Zweckursache setzt sie nämlich nichts anderes als irdische Wohlfahrt; und sie weiß nicht, daß die wirkende Ursache Gott der Schöpfer ist.
15. Über die gestaltende Ursache- aber, als welche sie die Seele bezeichnen, wurde nie und wird nie unter Philosophen Einigkeit erzielt.
16. Denn damit, daß Aristoteles sie als erste Wirklichkeit eines Körpers, der das Vermögen zu leben hat, definiert, wollte er ja Dozenten und Studenten zum Besten haben.
17. Es besteht auch keine Aussicht, daß der Mensch vornehmlich in diesem Teil sich seinem Wesen nach erkennen könne, bis er sich endlich in der Quelle selbst, welche Gott ist, wahrgenommen haben wird.
18. Und was jämmerlich ist: Nicht einmal über ihren Entschluß oder ihre Gedanken hat die Vernunft volle und zuverlässige Gewalt, sondern ist darin dem Zufall und der Nichtigkeit unterworfen.
19. jedoch, welcher Art dieses Leben ist, so beschaffen ist ebenfalls sowohl die Definition als auch die Erkenntnis des Menschen, nämlich dürftig, schlüpfrig und allzusehr an der Stofflichkeit orientiert.
20. Die Theologie hingegen definiert aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollkommenen Menschen.
21. Nämlich: Der Mensch ist Gottes Geschöpf, aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht ohne Sünde, mit der Bestimmung, Nachkommenschaft zu zeugen und über die Dinge zu herrschen und niemals zu sterben;
22. das aber nach Adams Fall der Macht des Teufels unterworfen ist, nämlich der Sünde und dem Tode - beides Übel, die durch seine Kräfte nicht zu überwinden und ewig sind;
23. und das nur durch den Sohn Gottes Christus Jesus zu befreien ist (sofern es an ihn glaubt) und mit der Ewigkeit des Lebens zu beschenken.
24. Unter diesen Umständen befindet sich jene allerschönste und allerherrlichste Sache, welche in voller Größe die Vernunft auch nach dem Sündenfall geblieben ist, dennoch - so ergibt sich schlüssig - unter der Macht des Teufels.
25. Folglich ist und bleibt der Mensch ganz und ausnahmslos - er sei König, Herr, Knecht, weise, gerecht und durch welche Güter dieses Lebens auch immer er sich hervortun kann - dennoch der Sünde und dem Tod verhaftet, weil unterdrückt unter dem Teufel.
26. Wer darum sagt, die natürlichen Kräfte des Menschen seien nach dem Fall unversehrt geblieben, philosophiert gottlos wider die Theologie.
27. Ebenso wer sagt, der Mensch könne sich dadurch, daß er tut, was in seinen Kräften ist, Gottes Gnade und das Leben verdienen.
28. Desgleichen wer Aristoteles (der vom Menschen in theologischer Hinsicht keine Ahnung hat) anführt, nämlich daß die Vernunft ihr Sehnen auf das Beste richte.
29. Desgleichen daß im Menschen »das über uns als Prägezeichen gesetzte Licht von Gottes Angesicht« (PS.4,7) sei, das heißt, freies Entscheidungsvermögen zur Hervorbringung der rechten Vorschrift und des guten Willens.
30. Desgleichen daß es in der Verfügung des Menschen stehe, zwischen Gut und Böse oder Leben und Tod usw. zu wählen.
31. Alle, die solches behaupten, verstehen nicht, was der Mensch ist, noch wissen sie, wovon sie reden.
32. Paulus faßt in Röm.3,28: »Wir erachten, daß der Mensch durch Glauben unter Absehen von den Werken gerechtfertigt wird« in Kürze die Definition des Menschen dahin zusammen, daß der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werde.
33. Wer vom Menschen sagt, er müsse gerechtfertigt werden, der behauptet gewiß, daß er Sünder und Ungerechter und deshalb vor Gott schuldig, jedoch durch Gnade zu retten sei.
34. Und dabei versteht Paulus »Mensch« unbegrenzt, das heißt, allgemein, um die ganze Welt, oder was immer Mensch heißt, unter der Sünde zusammenzufassen.
35. So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff zu dem Leben seiner künftigen Gestalt.
36. Wie auch die Kreatur überhaupt, die jetzt der Nichtigkeit unterworfen ist, für Gott der Stoff zu ihrer herrlichen künftigen Gestalt ist.
37. Und wie sich Erde und Himmel im Anfang zu der nach sechs Tagen vollendeten Gestalt verhielt, nämlich als deren Stoff,
38. so verhält sich der Mensch in diesem Leben zu seiner zukünftigen Gestalt, bis dann das Ebenbild Gottes wiederhergestellt und vollendet sein wird.
39. Bis dahin befindet sich der Mensch in Sünden und wird tagtäglich zunehmend gerechtfertigt oder verunstaltet.
40. Deshalb hält Paulus diese Reiche der Vernunft nicht einmal für wert, sie »Welt« zu nennen, sondern bezeichnet sie lieber als »Schemen der Welt« (1.Kor.7,31).

Zitiert nach Luther, Martin: Ausgewählte Schriften Bd 2, S. 294ff, Insel Verlag 1982