Der Apostelbrief

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Erntedank

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Schwäbische Wengerter (Fränkisch: Häcker) sagen gerne, wenn es ein guter Jahrgang war: »Oiges G'wächs.« War der Jahrgang nicht so gut, heißt es dagegen: »so hot's d'r Herrgott wachse lao.«

Auch über die Grenzen Schwabens hinaus ist die Aufgabenteilung klar: Wenn etwas gut läuft, ist es unser eigenes Verdienst, wo es klemmt, ist immer irgendjemand anderes verantwortlich.

Diese Praxis ist nicht nur global, sie hat auch Tradition. Schon David ermahnt sich selbst in Psalm 103, 2: »Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«

Während meines Studiums habe ich ein Seminar besucht, bei dem die Studierenden nach den Vorträgen der anderen sagen sollten, was ihnen aufgefallen war. Einzige Bedingung des Dozenten: die erste Bemerkung musste ein Lob sein.

Während der Vorträge fielen uns Dutzende von Punkten ein, die der oder die Vortragende falsch machten und die man viel besser hätte machen können - vor allem bevor wir unsere eigenen Vorträge halten mussten. Aber etwas Positives zu finden, das gerade diesen einen Vortrag auszeichnete, war schon sehr viel schwerer.

Die Dinge die wir besitzen, die Beziehungen die wir haben oder die Gemeinschaften, in denen wir leben, nehmen wir gerne als selbstverständlich hin. Wir könnten Gott dankbar dafür sein, dass wir ein Dach über dem Kopf haben. Aber wäre ein größerer Garten oder ein Zimmer mehr nicht schön? Wir könnten dankbar dafür sein, dass wir ein Auto haben und dadurch mobil sind. Aber warum hat mein Nachbar eigentlich ein Cabrio und ich nicht? Kurz gesagt: Man verdient immer zehn Prozent zu wenig.

Häufig nehmen wir das Gute und Schöne in unserem Leben erst wahr, wenn es zu spät ist, wenn wir es verloren haben. Deshalb ist das Gebet Davids so wichtig: »Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«

Am Erntedankfest danken wir Gott für etwas, das wir für selbstverständlich halten, das es weltweit gesehen aber nicht ist: dass wir genug zu Essen haben. Bei aller Arbeit und Mühe, die die Landwirte auch in diesem Jahr wieder investiert haben: Auf Qualität und Menge der geernteten Feldfrüchte haben sie nur bedingt Einfluss. Dass Mitteleuropa in den vergangenen Jahrzehnten von Hungersnöten verschont geblieben ist, gibt Anlass zu danken: »Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«

Vielleicht sollten wir es so machen, wie es der Dozent damals an der Uni gefordert hatte: uns bevor wir anfangen, zu jammern und zu klagen, an etwas zu erinnern, für das wir dankbar sein können.

-pv-