Der Apostelbrief

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Die Herzensmeditation der Ostkirche

Ostkirche

Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien in Kasan an der Wolga ein Büchlein, das in der deutschen Übersetzung von 1959 den Titel trägt: »Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers.« Dieses köstliche Büchlein handelt von einem russischen Bauern, der bei Paulus den Satz gelesen hat: »Betet ohne Unterlass« und sich nicht vorstellen kann, wie dies zu bewerkstelligen sei.

Schließlich begegnet er einem Mönch, der ihm sagt: »Das unablässige innerliche Gebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten : "Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner." Wenn sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, dass er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz von selber aus ihm lösen.«

Der Mönch unterweist nun den Bauern in dieser Gebetsmethode ... des »immerwährenden Gebetes«, das, längere Zeit geübt, die Meditation des Herzens zu jeder Stunde ermöglicht. Das »Instrument« hierzu ist ein Mantra, das unablässig wiederholt, geflüstert, gemurmelt und innerlich vorgestellt wird: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.«

Jedoch bemerken hierzu die Verfasser der »Centurie der Mönche Kallistus und Ignatius« vom Berge Athos vom Ende des 14. Jahrhunderts in deren 50. Kapitel: »Der eine sagt: "Herr Jesus", der andere aber: "Jesus Christus", der dritte "Christus, Sohn Gottes". Den Nachsatz freilich "erbarme dich meiner", der den heilbringenden Worten "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes" folgt, haben die Väter hauptsächlich in Hinblick auf die Anfänger und noch Unvollkommenen angefügt. Aber die Fortgeschrittenen haben schon genug an den Worten "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes", ja sogar an der Anrufung des Namens Jesu alleine. So sind sie mit dem Bedenken und Meditieren eines oder des anderen dieser gottmenschlichen Sprüche vollkommen zufrieden und werden dadurch zu Entrückungen, Erkenntnissen und Offenbarungen hingerissen, die sie "wortlos im Geiste" erfahren.«

Das Herzensgebet stellt eine typische, allerdings christliche, Mantra-Meditation dar, wie solche in Indien, Tibet und weiter im Osten ungemein verbreitet sind und dort auf alten Traditionen beruhen. Das bekannteste Mantra Indiens ist das Aum (oder Om), in dem »alles« enthalten ist, der Atem, die Befreiung, die Gottheit. Etwa diesem entspricht das christliche Mantra »Jesus«, das den Kern der Herzens-Meditation bildet und das mit dem Luftstrom ein- und ausgeatmet wird. Die unaufhörliche Wiederholung des Mantra »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes (erbarme dich meiner)«, führt nun, wie die Erfahrung bezeugt, zu einer weitgehenden Veränderung des ganzen Menschen, des Atems, des Blutkreislaufes, des Muskeltonus, des Gemütes. Das Mantra wird zur Einübung zuerst laut gesprochen, dann leise gemurmelt und schließlich nur noch innerlich vorgestellt – d. h. der Geist wird auf das Mantra hin konzentriert mit der Vorstellung, dass Wort und Atem in das Herz hinabgezogen werden. Auf diese Weise wird das Herz zum Zentrum der Meditation. Und von Atem und Wort erfüllt, beeinflusst es dann wieder den Blutkreislauf, regelt und rhythmisiert ihn. So gelangt der Mensch allmählich zum Frieden, zur Ruhe, zur Hesychia, d. h. zum Gleichmaß jenseits der Gegensätze, was ausdrücklich das Ziel der Herzmeditation des östlichen Christentums ist.

(Gekürzt zitiert nach „Türen nach innen. Wege zur Meditation, München 1974)