Der Apostelbrief

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Nur keinen Streit vermeiden

Der Vorbereitungskreis für den Altennachmittag tagte nun schon zum zehnten Mal. Und wieder war es Herr X, der durch sein ewig gleiches Lamento über die Jugend von heute und ihr mangelndes Interesse an der älteren Generation verhinderte, dass man endlich zur Sache kommen und die Besprechung zu einem raschen Ende bringen könnte. Keiner der übrigen Teilnehmer sagte etwas, aber innerlich kochte jeder. Aber jeder dachte: Lieber halte ich sein Geschwätz aus, als dass ich einen Streit riskiere.

Streiten gilt im Allgemeinen nicht als christliche Tugend. Zu deutlich haben wir die Bergpredigt (»Selig sind die Friedfertigen ...«) im Kopf. Aber was ist die Konsequenz? In dem (völlig frei erfundenen) Beispiel eben führt das dazu, dass die Zuhörer äußerlich eine christlich-geschwisterliche Fassade wahren, innerlich aber einen immer größeren Groll entwickeln, der irgendwann einmal zu einer Explosion führen wird, die sich dann keiner erklären kann.

Toleranz ist heute erste Bürgerpflicht. Wer in unserer Gesellschaft eine deutliche Meinung vertritt wird ganz schnell zum Fundamentalisten gestempelt. Deshalb ist aus der Friedfertigkeit der Bergpredigt inzwischen postmoderne Harmoniesucht geworden, die bis in unsere Gemeinden reicht.

Dabei wäre es doch gerade die Pflicht von Christen, ehrlich mit ihren Mitmenschen außerhalb und innerhalb der Gemeinde umzugehen. Wenn Missstände oder Ungerechtigkeiten nicht ausgesprochen werden, kann das ein Zeichen von Demut sein. Meist ist es allerdings eher ein Zeichen von Konfliktscheu.

Bei vielen Themen, die in unserer Gesellschaft diskutiert werden, entspricht die Meinung der Mehrheit oder der Mächtigen nicht unbedingt christlichen Positionen. Oft strapazierte Beispiele sind Abtreibung oder Sterbehilfe. Hier deutlich Stellung für das Leben und die Würde von Menschen an den Grenzen des Lebens zu beziehen bedeutet auch, Streit zu riskieren. Diesen Streit zu vermeiden bedeutet andererseits, die in der Bibel für uns niedergelegten Positionen Stück für Stück aufzugeben.

Doch Vorsicht: Wer streitet, riskiert auch ganz schnell, andere zu verletzen. Als Spielregel für »christliches« Streiten gilt deshalb: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« oder volkstümlicher: »Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.« Also: Wie würde die Kritik, die ich meinem Gegenüber zumute auf mich selbst wirken?

Streiten ist anstrengend und es wäre schöner, wenn man ohne Streit auskäme. Aber ein Leben ganz ohne Streit ist wie ein heißer Sommer ohne Gewitter: unerträglich.

-pv-