Der Apostelbrief

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Der Mandelzweig

Wir alle sehnen uns nach den Wintermonaten wahrscheinlich nach der wärmenden Sonne und der wiedererwachenden Natur des Frühlings. Beide Jahreszeiten, der Winter und der Frühling, sind in der Poesie, der Musik und der Religion mannigfach metaphorisch beschrieben, besungen und gedeutet worden. Zwei Beispiele mögen hier zur Sprache kommen: das Essay „Der ewige Winter“ des italienischen Lyrikers und Priesters Enzo Bianchi (geb. 1943), und das bekannte Gedicht „Der Mandelzweig“ des israelischen Religionswissenschaftlers Shalom Ben-Chorin (1913—1999).

Nach seinem Studium an der Universität Turin ging Enzo Bianchi in das Dorf Bose im Piemont, um dort eine Gemeinschaft von Mönchen zu gründen, der er selbst als Prior vorstand. Aufgrund seiner umfangreichen und vielbeachteten schriftstellerischen Tätigkeit wurde er Mitglied der Académie Internationale des Sciences Religieuses (Brüssel) und des International Council of Christians and Jews (London). In seinem Werk Der ewige Winter betrachtet Enzo Bianchi den Winter, eine schöne aber rauhe Jahreszeit, als Metapher unseres Lebens.

Viele Autoren vor Bianchi fassten das Bild des Winters als Metapher für einen Vergleich mit dem letzten Lebensabschnitt des Menschen, dem Greisenalter, auf. Hierfür gibt es Beispiele von kraftvoller Intensität, von archaischen altgriechischen Dramen über mittelalterliche Mysterienspiele bis zu poetischen Darstellungen unserer Tage. Alle diese Analogien haben jedoch ein offensichtliches Problem: das Greisenalter mündet in die Endgültigkeit des Todes, kennt also nicht die Zyklizität der Jahreszeiten, bei denen dem Winter stets eine Neugeburt der Natur im Frühling folgt. Bianchi wählt daher eine andere Interpretation: er sieht den Winter als Metapher für unser gesamtes Leben, vor allem in seinen dunklen und traurigen Ausprägungen. Damit erhält auch die Dynamik der Neugeburt durch den Frühling eine andere Deutung: das Leid kann neue Chancen eröffnen, und der Verlust, sogar wenn er endgültig ist, kann eine Art Frühling in Geist und Seele auslösen, wenn wir darüber mit anderen Menschen vertrauensvoll sprechen.

Die Folgerung, die Bianchi in den letzten Zeilen seines Werks hieraus zieht, sind nach meiner Ansicht besonders tröstlich: wir müssen uns nicht schämen, wenn wir Leid erfahren, und wir sollten keine Angst davor haben, mit anderen Menschen, denen wir vertrauen, darüber zu sprechen. Tatsächlich gibt es nach Bianchi so etwas wie die „Würde des Leidens“ (la „dignità della sofferenza“), die es uns ermöglicht, die wahre Natur unseres Gegenübers zu erkennen.

Was aber bedeutet dann der Frühling? In Israel, dem Land der Bibel, beginnt dieser schon in diesen Wochen, und er bringt dort die Wüste zum Blühen. Der Frühling ist in den Ländern der Bibel etwas Besonderes, denn die meiste Zeit im Jahr herrscht Wasserknappheit. Er ist die Phase, in der einmal alles grün ist, bevor es die stechende Sommersonne versengt. In der Vision des Propheten Jesaja (Jes 35, 1-7) wird die Wüste zum blühenden Land. Der Frühling im Land der Bibel ist intensiv, aber kurz. Da gibt es eine Zeit, in der die Zwiebelblumen alle gleichzeitig blühen, aber nicht sehr lange natürlich. Auch die Bergpredigt erwähnt, dass es eine nur kurze Blütezeit ist. Das Gras grünt und blüht und dann ist es weg. Hier bietet die Bibel eine weitere Metapher an: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“ (1. Petr, 24). Johannes Brahms hat bekanntlich in seinem großartigen Deutschen Requiem den zweiten Satz, der ein bewegender Trauermarsch ist, dieser Textstelle gewidmet. Das Buch Jesaja tröstet uns aber: „Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40, 8).

Der früheste „Blüher“ im Land der Bibel war schon zu Zeiten des Alten Testaments der Mandelbaum. Er verzaubert mit einer herrlichen Blüte in zartem Rosa und einem feinen Duft, und spielt in der Berufung des Propheten Jeremia eine Rolle. Dieser hat in seiner ersten Vision einen Mandelzweig erblickt (Jer 1, 11). Manchmal liest man, dass der Mandelbaum wegen seiner frühen Blüte im Hebräischen „der Wachsame“ heißt. Diese Interpretation ist aber nicht ganz korrekt. Bei Jeremia müssen wir den Text vielleicht anders lesen: Und es erging das Wort des HERRN an mich: „Was siehst du, Jeremia?“ Ich antwortete: „Ich sehe einen Mandelzweig.“ Da sagte der HERR zu mir: „Du hast recht gesehen. Ich wache über meinem Wort und werde es durchführen.“ Das ist ein hebräisches Wortspiel zwischen schaked (= Mandelbaum) und schoked (= wachsam sein). Der Mandelbaum blüht im Frühjahr als Erster und scheint im Winter gar nicht „geschlafen“ zu haben. Während die Natur um ihn herum noch schläft, ist er erwacht und beginnt zu blühen und zu treiben. Er ist darum ein Symbol des Wiedererwachens der Natur, vielleicht sogar der Auferstehung von den Toten.

Eine besonders schöne Interpretation des Mandelzweigs als Symbol der göttlichen Wirkkraft hat uns Shalom Ben-Chorin mit seinem Gedicht Freunde, dass der Mandelzweig geschenkt:

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt. Ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, Achtet dieses nicht gering, in der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt. Ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Mandelzweig

Ist das nun ein Liebesgedicht, welches Ben-Chorin 1942 geschrieben hat? Mitten im zweiten Weltkrieg, also in einer Zeit, in der er im Exil lebte? Denn nachdem er als Jude in Berlin massiv bedroht wurde, war er nach Jerusalem ins Exil gegangen. Und im Exil musste er tatenlos und ohnmächtig miterleben, wie die Nazis sein Volk in Deutschland und in Europa vertrieben und vernichteten.

Dieses Gedicht hat Ben-Chorin gegen seine eigene Verzweiflung geschrieben.

„Muss man nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in dieser Welt?” schrieb er. So nimmt Ben-Chorin dieses Bild des Mandelzweiges nicht zufällig als Hoffnungszeichen auf, sondern gerade wegen der zarten Blüten, die als Boten den Frühling ankündigen und auch in der Bibel schon als ein Zeichen der Hoffnung zu finden sind.

Shalom Ben-Chorin war ein tiefgläubiger Jude. Obwohl er Grund genug gehabt hätte, an Gott zu verzweifeln, hat er an Gottes Wort festgehalten. Bei ihm kommt das Dennoch des Glaubens zum Ausdruck, das wir auch beim Psalmbeter finden, etwa in Ps. 73, 23: Dennoch bleibe ich, Herr, bei dir! Sein Leben und sein Lied sollten uns darum eine Ermutigung sein, auch heute auf Menschen anderer Religionen und anderer Kulturen zuzugehen und trotz aller Spannungen und Fremdheit gemeinsam nach Frieden und Versöhnung zu suchen.

Zu diesem Thema enthält unser Gesangbuch übrigens als Nr. 237 das Lied Und suchst du meine Sünde mit dem 1966 verfassten schwer zu deutenden Text von Shalom Ben-Chorin.

Und es erging das Wort des HERRN an mich: „Was siehst du, Jeremia?“ Ich antwortete: „Ich sehe einen Mandelzweig.“ Da sagte der HERR zu mir: „Du hast recht gesehen. Ich wache über meinem Wort und werde es durchführen.“

Jürgen Appell